Übergang von Ein- zu Vielzellern  

1.) Verzweigen und Verknüpfen in der Evolution

Herangehensweisen, mit denen eine vielschichtig verstandene Evolution untersucht werden können (siehe Abschnitt 5.5 und These 24), zeichnen sich dadurch aus, dass es in der Evolution nicht nur ein Nacheinander (Zeit) gibt, sondern auch ein Nebeneinander (Raum) existiert. Deshalb werden folgende Fragen gestellt: Wie verzweigt sich die Evolution, so dass ein Nebeneinander entsteht? Wie verbinden sich die Verzweigungen wieder, so dass ein Nacheinander in der Evolution erkannt werden kann?
    Zum Beispiel wird der Übergang von Einzellern zu größeren tierischen Vielzellern konträr dargestellt. Wolfgang Gutmann (kritische Evolutionstheorie) sagt: "Vielzelligkeit war somit der zweite Schritt nach Aufbau und Integration eines versteifenden Innengerüstes" (1995, 87). Nach der Vorstellung von Ernst Haeckel entstand zuerst die "lose Kooperation" der Einzeller (Aggregation) und dann die Vielzelligkeit, der anschließend die Herausbildung eines Innengerüstes folgt (siehe Abschnitt 2.2.4).
    Das stetige Entfalten der Funktionen wird nach der Vorstellung der Dialektik von Diskontinuität und Kontinuität bei einem Strukturwechsel nicht unterbrochen, sondern in andere Bahnen gelenkt (vgl. qualitativer Sprung von Peter Beurton 1979, 139). Wenn auf dieser Basis der Fünf-Stufen-Qualitätssprung (siehe Abschnitt 5.2 und 5.5) verwendet wird, stehen sich diese Aussagen nicht mehr konträr gegenüber. So entstehen im dritten Schritt (isolierte Funktionswechsel) innerhalb der Struktur des Einzellers unabhängig voneinander das sich versteifende Innengerüst und die lose "Kooperation" von Einzellern.

Abb.: Verzweigen und Verknüpfen

Innerhalb des Einzellers verzweigt sich die Entwicklung mit der Entstehung mehrerer Funktionswechsel (FW). Aber mit dem Strukturwechsel (SW) des Vielzellers verknüpfen sich diese verschiedenen Wege der Entwicklung wieder.

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2.) Eine vielschichtige Darstellung des Übergangs

Im Folgenden wird zum Beispiel der Fünf-Stufen-Qualitätssprung (vgl. auch Klaus Holzkamp 1895, 78-82) vorgestellt, der im Abschnitt 5.2 genauer untersucht wird.

  1. Analyse der ursprünglichen Struktur: Hier wird untersucht, aufgrund welcher innerer und äußerer Bedingungen sich die bestehende Struktur (hier der Einzeller) stabil oder unverändert reproduziert, so dass die Unterschiede zwischen Eigenentwicklung und Fremdeinflüssen bestimmt werden können.

  2. Erschöpfung der Bedingungen: Hier wird gedeutet, wie sich die inneren und äußeren Bedingungen, unter denen die bisherige Reproduktion stabil war, verändern und mit der Zeit erschöpfen.

  3. Isolierte Funktionswechsel: Im Rahmen der bestehenden Struktur entstehen Qualitätssprünge erster Ordnung, die sich unabhängig voneinander vollziehen und noch reversibel sind. Beim Übergang zu Vielzellern entstehen die lose "Kooperation" der Einzeller und das Innengerüst, wobei die Struktur des Einzellers konstant bleibt. Nach den Veränderungen erschöpfen sich die Bedingungen erneut.

  4. Strukturwechsel: Erst bei dem Qualitätssprung zweiter Ordnung bildet sich die neue Struktur, der Vielzeller, heraus, so dass das Innengerüst und die lose "Kooperation" nun als innere "Kooperation" gleichzeitig und dauerhaft (irreversibel innerhalb dieser Struktur) entstehen.

  5. Umstrukturierung: Der Umbau aller Beziehungen zwischen den Prozessen in der neu entstandenen Struktur erfolgt entsprechend der Konstruktions- und Organisationsbedingungen dieser Struktur. Zum Beispiel kann sich ein Vielzeller tendenziell viel stärker als ein Einzeller spezialisieren und der Einzeller kehrt zu seinen "Wurzeln" zurück.

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3.) Warum werden Funktionswechsel benötigt?

Auch wenn Innengerüst und lose "Kooperation" innerhalb des Einzellers reversibel entstehen, so kann erst dann von Vielzelligkeit gesprochen werden, wenn sich beide gleichzeitig und irreversibel herausbilden. Die Entstehung des Neuen ist kein unerwartetes Ereignis und auch kein blitzartiges Auftreten zuvor nicht vorhandener Systemqualitäten (vgl. Fulguration bei Konrad Lorenz 1977, 47ff), sondern ein Prozess (vgl. die Vorstellung des qualitativer Sprungs von Peter Beurton 1979, 139).
    "Das Problem des Funktionswechsels ist von besonderer Bedeutung im Rahmen der Stammesgeschichte, da er überhaupt den Schlüssel liefert für die Erklärung, wie evolutiv Neues entstehen kann, wie neue aus alten Qualitäten hervorgehen, kurz, wie es eine Evolution geben kann, die mehr als bloße Veränderung ist." (Peter Beurton 1975, 915)
    Das bedeutet, dass zwischen den voneinander unabhängigen Funktionswechsel innerhalb einer Struktur (Qualitätssprünge erster Ordnung) und den Strukturwechsel (Qualitätssprung zweiter Ordnung) sowie zwischen der reversiblen Erstentstehung von Funktionen und der irreversiblen Entstehung dieser unterschieden werden muss. Dieser Mehraufwand gegenüber eindimensionalen Evolutionstheorien ist notwendig, wenn eine vielschichtig verstandene Evolution begriffen werden soll.
   

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